Presseschau - Unsichtbarer Stressfaktor

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Unsichtbarer Stressfaktor

Leise Schulen - keine Utopie 

Lärm gehört zur Schule wie der Frosch in den Teich: Nur dass der Frosch dort keinen stört, der Lärm im Klassenzimmer dagegen sehr wohl. Was macht der Lärm mit Kindern und Lehrern - und was macht Schulen leiser? 

Weniger Lärm in der Schule 

Wir alle kennen Schulen und Kindergärten von innen, entweder aus der Kindheit oder wenn wir den Nachwuchs hinbringen. Wer sich dem morgendlichen Getümmel in diesen Gebäuden aussetzt, fühlt sich meist unweigerlich gestresst. Und das liegt nicht an der frühen Uhrzeit, sondern am Lärm. Lärm stresst und kann krank machen. 

Der Lärm und seine Quellen

Allerdings kann man am Lärmpegel von Schulen schrauben, obwohl es dort ausgesprochen viele Lärmquellen gibt: Geschrei, Gelächter, Rufe, Schritte in den Fluren; Stimmen im Klassenzimmer, Flüstern, Stühlerücken, Ranzenklappern, Papiergeraschel; Teller- und Geschirrklappern im Speisesaal, dazu Stimmengewirr; Bau- oder Autolärm von draußen, der über Fenster eindringt. 

Daniel Neuer hat genau das gemacht, am Lärmpegel einer Schule geschraubt. Er ist Architekt und hat den Neubau der Evangelischen Zinzendorf Schulen im ostsächischen Herrnhut geplant und umgesetzt. Ein wichtiger Aspekt bei der Planung, es sollte leiser sein als in der alten, ursprünglichen Schule, die abgerissen werden musste. Tatsächlich hat er Ruhe in die Klassenzimmer gebracht, mit Holzpanelen aus nachhaltig angebauter Weichtanne an den Wänden. Neuer ist zufrieden: 

Wir haben die Berechnungen unserer Akustiker verglichen mit Messungen im Schulbetrieb: Die Zahlen stimmen fast exakt überein.

Wenn Kinder ihre Schule als ihre ansehen

Seit Januar 2019 ist das Gebäude in Betrieb und es klingt spürbar anders. "Auch die Schüler bestätigen, dass es leiser im Klassenzimmer ist und dass sie Mitschüler und Lehrer besser hören und verstehen." Beim Neubau wurde sogar bewusst auf eine Lackierung der Holz-Elemente verzichtet, sagt Neuer: 

Der nachhaltigste Lack ist schließlich der, der gar nicht erst produziert wird. Interessanterweise haben wir auch ein Jahr nach der Inbetriebnahme keine Spuren von Vandalismus.

Grund dafür könnte auch sein, dass die Kinder ihre Schule von Anfang an mitgeplant haben: Im Entwurfsprozess waren sie bei knapp 20 Workshops direkt dabei, konnten Ideen und Wünsche einbringen, erzählt Neuer: "Da ging es darum: Wir haben ein 120 Meter langes, schmales Baustück, aber es sollte keine preußische Kaserne werden, ein ewig langer Flur, von dem gleich große Räume abgehen." Die Meinungen der Kinder wurden dann abgestimmt mit den Experten verschiedener Baurichtungen, was im Rahmen der Baunormen möglich ist, aber auch welche Möglichkeiten Akustiker sehen, den Schullärm einzudämmen: "Bauen ist komplexer geworden, man muss Fachleute um sich versammeln und miteinander arbeiten."  

Entstanden ist ein geschwungener Flur, den Sitzmöbel beleben. Die Raumgrößen sind abgestimmt auf die jeweilige Nutzung, für Oberstufen-Kurse wurden auch kleinere Räume geplant, als für normale Klassengrößen, das Lehrerzimmer wiederum ist größer. 

Was Lärm mit Kindern macht

Obwohl in den Fluren in Herrnhut auf spezielle Lärmschlucker verzichtet wurde, ist es auch dort leiser geworden, sagt Neuer. Wenn Schüler aus den geräuscharmen Klassenzimmern auf den Flur kommen, verhalten sie sich prompt auch im Flur anders - nämlich leiser. Wie wichtig Raumakustik und Schalldämmung sind, beschreibt Professor Marc Schönwiesner, Neurobiologe an der Uni Leipzig. Schlechte Raumakustik hat fatale Nebenwirkungen bei Kindern: 

Im Gegensatz zu Erwachsenen können sie Nebengeräusche schlecht ausblenden. Das führt dazu, dass ein Großteil der Energie, die Kinder für den Unterricht brauchen, in aktive Schallunterdrückung fließt.

Das könne man sich so vorstellen, als ob Kinder im Nebenzimmer einen zweiten Prozess bewältigen - nämlich die Lärmunterdrückung. Und dafür benutzen sie Energie, die beim eigentlichen Lernen und Verstehen fehlt. 

Vom Lärmklima zum Lernklima

Nicht überall können alte Schulen durch akustisch optimal geplante Neubauten ersetzt werden. Der Lärmpegel lässt sich trotzdem verringern, sagt Neuer, zum Beispiel eben mit Akustikelementen an Decken oder Wänden. Auch die Schul-Ausstattung kann das Lärmklima verbessern: lärmarme Bodenbelege, Stuhlgleiter, Türen, die keinen Lärm vom Flur durchlassen. 

Oder Unterrichtsinhalte werden mit dem vorhandenen Lärm verknüpft: Indem Klassen oder Kurse Lärmlandkarten der Schule erstellen, zum Beispiel in Physik, oder für Biologie Geräuschesammlungen aus dem Schulhaus und dem Schulalltag sammeln, oder eine Lärmoper in Musik komponieren. 

Solche Projekte ändern zwar auf den ersten Blick nichts am architektonisch vorgegebenen Lärmklima der Schule, aber sicher am Lernklima. Solche bewussten Analysen und Erfahrungen mit Lärm können den Anstoß dafür geben, dass sich Kinder und Jugendliche eine eigene Ruhe-Oase in ihrer Schule schaffen. 

So wie im Landesgymnasium Latina August Hermann Francke in Halle mit ihrem "Raum der Stille". Schülerinnen und Schüler hatten sich zwei Jahre lang dafür eingesetzt, Umfragen gestartet, ein Raumnutzungskonzept erstellt und über selbst organisierte Kuchenbasare auch Geld dafür erarbeitet. Inzwischen wird der Raum der Stille von Kindern und Lehrpersonal als Rückzugsort genutzt. 

Quelle: mdr.de | 19.01.2020