Presseschau - Sie sagen Solidarität und meinen Gehorsam

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wie gerade ein Begriff (und eine Tugend) verdreht wird

In Corona-Zeiten ist auch das Solidaritätsgerede endemisch geworden. Was macht dies mit den Menschen? Aber vor allem – was wäre denn echte gelebte Solidarität? Ein paar Gedankenanstösse zur gegenwärtigen mentalen Lage.

«Man hat seine eigene Wäsche, man wäscht sie mitunter. Man hat seine eigenen Wörter, man wäscht sie nie.» Bert Brecht, 1920. Hundert Jahre später segelt das Wort «Solidarität» ungewaschen durch die politische Öffentlichkeit. Das Waschen sollten wir nachholen. Denn Sprache ist immer auch Politik.

Solidarität ist seit einiger Zeit zu einem mächtigen Euphemismus im Ideenwettbewerb herangereift. Man kalkuliert mit der Applausgarantie – und mit Entrüstungsgarantie bei Nichtbefolgung. Anwendungsbeispiele gibt es genug: in Deutschland die Steuer nach 1989, die beschönigend als «Solidaritätszuschlag» etikettiert wurde, der sogenannte «Solidarpakt» zwischen Arbeitgebern und -nehmern, die fehlende «Frauensolidarität», die der heutige Feminismus beklagt und deshalb die Quote beklatscht; und wer gegen wohlfahrtsstaatliche Wucherungen argumentiert, wird mit Verweis auf die Solidarität zurückgepfiffen.

Auch in Gegenrichtung: Ein CDU-Politiker hielt 2003 nichts davon, wenn man 85-Jährigen noch künstliche Hüftgelenke «auf Kosten der Solidargemeinschaft» implantiert. Da wusste er noch nicht, was zu Corona-Zeiten alles möglich ist. Gerade heute lenkt «Seid solidarisch!» bedenkenlos unser Denken. «Haltet euch an Hygieneregeln! Bleibt zu Hause! Unterlasst alles, damit Menschen nicht sterben und das Personal in den Krankenhäusern geschont wird!»

Heute: ein Stimmungsumschwung

Lange wurde Solidarität von den Bürgern durchweg positiv bewertet. Das hat sich in den letzten Monaten geändert. Vor allem zwischen dem ersten und dem zweiten Lockdown äusserte und verhielt man sich zwar öffentlich weitgehend solidarisch, murrte aber zunehmend im privaten Kreise: «Ich kann das Gerede von Solidarität nicht mehr hören!»

Nun, was genau ist Solidarität? Die Frage zielt hier nicht auf Begriffsakrobatik, sondern auf soziale Umsetzbarkeit. Hilft der Appell an die Solidarität, eine zustimmungsfähigere Politik zu machen? Und wenn ja – warum verhalten sich viele Menschen unsolidarisch – offen oder verdeckt?

Der Begriff bedeutet zunächst Zusammenhalt und Unterstützung. Dabei ist Solidarität, schaut man genauer hin, partikularistisch. Solidarität ist Gruppensolidarität. Sie kann sich nicht auf alle und jeden beziehen, nicht auf die Menschheit, auch nicht auf die Gesellschaft, sonst löst sich der Begriff ins Grenzenlose auf. Wer sich solidarisiert, tut das also mit einer Gruppe gegen Widerstand.

Die zweite Bedingung für Solidarität sind gleiche Gesinnungen, gemeinsame Erfahrungen und entsprechende Ziele. Diese Faktoren stiften Einheit und legitimieren den Aufruf zur Geschlossenheit.

Drittens sind es nicht beliebige Erfahrungen, die der Solidarität vorausgesetzt sind, sondern Benachteiligung, Ungleichheit, Mangel. Konkret also etwa die Erfahrungen von Afroamerikanern, Frauen (wahlweise Männern), Transsexuellen, Menschen unterhalb der Armutsgrenze oder Risikogruppen.

Fragen ohne Antworten

Legen wir diese Kriterien über die Corona-Appelle. Weder werden Gruppengrenzen genannt, die eine allgemeine Menschenliebe pragmatisch einschränken, noch kann man gemeinsame Erfahrung und Ziele unterstellen - allenfalls das sehr allgemeine Ziel, die Pandemie zu beenden. Auch die gemeinsame Erfahrung von Benachteiligung trägt den Appell nicht. Es ist ja nicht klar, wer da hauptsächlich geschädigt werden könnte: Viele oder wenige Menschen? Junge oder Alte? Gesunde oder Vorerkrankte?

Sind wir nur bedroht als Bio-Klumpen, die vor sich hin stoffwechseln? Oder sind wir Menschen mit Würde? Was ist mit den Spätfolgen? Sowohl medizinischer, ökonomischer wie psychischer Art? Und kaum jemand hinterfragt die mentalen Konsequenzen der Freiheitsbeschneidungen. Solidarität unterstellt unter Corona-Bedingungen eine Gleichheit, die nicht existiert. Nicht zuletzt deshalb liefert der Appell, die Solidarität über die eigenen Interessen zu stellen, keine ausreichende Motivation, dies auch wirklich zu tun.

Freiwilligkeit ist ihre wichtigste Eigenschaft; aufgezwungene Solidarität ist keine. Das wiegt umso schwerer für die nichtparlamentarisch diskutierten, lediglich exekutiv erlassenen Corona-Massnahmen. Wird Solidarität (beispielsweise gegenüber vulnerablen Menschen) gar als moralische Pflicht ausgewiesen, dann ist sie vollständig torpediert. Freiwilligkeit ist die Bedingung ihres moralischen Charakters. Was erzwungen ist, hat keinen moralischen Wert.

Solidarität kann man sich daher wünschen, aber eben nicht einklagen, nicht herbeinötigen, auch nicht einfach voraussetzen. Der Kategorienfehler liegt offen zutage: Von Solidarität wird gesprochen, aber Gehorsam ist gemeint. Es wird nicht (nur) das nüchterne Befolgen der Corona-Anweisungen gefordert, sondern diese Forderung wird zusätzlich moralisiert. Warum?

Politik und Machtmoral

Offensichtlich ist dem Gesetzgeber ein Defizit der Angemessenheit der Massnahmen bewusst. Deshalb scheut er davor zurück, sie konsequent durchzusetzen, verschiebt diese Konsequenz auf die normative Ebene, eben die Solidarität. Diejenigen, die sich nicht an die Corona-Auflagen halten, sind also auch schlechte Menschen. Die moralische Codierung, die mit Solidarität möglich erscheint, überformt den Politikbereich und wird zur Machtmoral. Dann ist das Opfer schuld, nicht der Henker.

Was Solidarität wäre

Eingedenk dieser Modalitäten: Was ist der natürliche Ort der Solidarität? Wo gehört sie hin? In die Familie. Solidarität gehört in den Nahbereich, dort ist sie unersetzlich. Dort ist Solidarität, das Sprachspiel sei erlaubt, solide. Was aber derzeit mit Solidarität verbrämt wird, ist eine Politik, die die Gesellschaft nach dem Modell der Familie lenken will, die «grosse Welt» den Regeln der «kleinen Welt» unterwirft. So ist die Solidarität auf den Hund gekommen: eine rhetorische Moralkeule der Gemeinschaftsseligkeit, die Freiheitsrecht beschneidet.

Jedoch: Unabdingbar ist Solidarität, wenn sie im brechtschen Sinne «gewaschen» ist, wenn sie freiwillig ist, nichtreziprok und im Nahbereich gelebt wird. Dann ist sie eine der edelsten Tugenden, zu denen wir Menschen fähig sind. Sie ist hingegen zerstört, wenn sie erzwungen wird, wenn sie als kollektiver moralischer Imperativ, gar als politisches Programm zur Anpassung oder Umerziehung eingesetzt wird.

Der Politik geht es mit der moralischen Codierung der Corona-Massnahmen vor allem darum, das Gespräch zu beenden, Kritik zu unterbinden und Alternativen zu ersticken. Aber das kann sie nur erfolgreich tun, wenn kein Bürgersinn mehr vorhanden ist, der den Wert der Freiheit über das Leben stellt. Dabei hat das Leben als solches keine innere moralische Qualität. Es ist Zeit, sich dessen zu erinnern.

Reinhard K. Sprenger 

Quelle: nzz.ch | 15.02.2021