Presseschau - Schule machen

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Schule machen

Geht Lernen auch ganz anders? Als seine Schule von der Schließung bedroht ist, probiert ein Rektor das einfach mal aus. Ein Besuch in Wutöschingen.

Text: Harald Willenbrock / Fotografie: Anne Morgenstern

„Jeder hat Talente. Wenn wir aber einen Fisch nach seiner Fähigkeit beurteilen, auf Bäume zu klettern, wird er sein Leben in der Überzeugung verbringen, ein Versager zu sein.“ 

• Wenn pünktliches Erscheinen ein Indikator für Lernbereitschaft ist, gehen die Schüler der Alemannenschule Wutöschingen glatt als superwillig durch. Es ist noch nicht einmal sieben Uhr morgens und noch zitterkalt, als die ersten von ihnen zum Bläserchor eintrudeln – gut 30 Minuten vor dem offiziellen Beginn des Unterrichts. Der Rektor Stefan Ruppaner begrüßt jeden Schüler mit Handschlag und Namen, wobei die hier nicht Schüler, sondern Lernpartner heißen, und die Lehrer nicht Lehrer, sondern Lernbegleiter. In Wutöschingen findet der morgendliche Bläserunterricht auch nicht in der Schule, sondern im Keller des Rathauses statt – und das sind alles noch die weniger spektakulären Eigenheiten dieser staatlichen Gemeinschaftsschule in der 7000-Einwohner-Gemeinde am äußersten Südwestrand der Republik.

Keine Klassenlehrer, keine Klassenarbeiten, kein Lehrer- und keine Klassenzimmer. Vieles, was man automatisch mit Schule verbindet, sucht man hier vergeblich: Die Gebäuderiegel der Alemannenschule liegen im Ortskern gleich neben Kirche und Rathaus. In den beiden Altbauten hat man vor sieben Jahren die Wände herausgerissen, der Neubau erinnert an einen modernen Campus mit Mensa, Meetingräumen und Bibliothek, in der allerdings komplett die Bücher fehlen. Die braucht hier keiner. Die 650 Schüler und 70 Lehrer nutzen vielmehr iPads und eine digitale Lernplattform namens „DiLer“, die Lehrkräfte der Wutöschinger Schule in Eigenregie entwickelt haben, weil es keine entsprechende staatliche gab.

Über DiLer kann jeder Schüler jederzeit einsehen, wo er steht, was er bereits erreicht hat und was noch vor ihm liegt. Das ist auch deswegen wichtig, weil Stoff in Wutöschingen nicht mehr in synchronem Frontalunterricht, sondern in altersübergreifenden Lerngemeinschaften vermittelt wird, und zwar in einer Geschwindigkeit, die jeder Schüler seinen Fähigkeiten entsprechend wählt. Den Erfolg prüfen die Lehrer statt in angstschweißtreibenden Klassenarbeiten durch sogenannte Gelingensnachweise, die nicht benotet, sondern lediglich als Mindest-, Fortgeschrittenen- oder Expertenstandard eingestuft werden.

Flucht nach vorn

Bestnoten gibt es hingegen für das Wutöschinger Experiment. 2019 wurde die Dorfschule mit dem „Deutschen Schulpreis“ als eine der besten Lehranstalten hierzulande ausgezeichnet. „In Wutöschingen ist ein öffentlich wahrnehmbarer Lernraum entstanden, in dem sich ausgezeichnet beobachten lässt, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihrem gemeinsamen Lernen auf die Spur kommen und sich dabei ohne Angst auf eine ungewisse Zukunft einlassen“, heißt es in der Begründung der Robert Bosch Stiftung.

Der Ansatz: Eigeninitiative statt Fremdsteuerung. Spaß statt Stress. Stefan Ruppaner sagt: „Wenn ein Mensch jahrelang gern zur Schule geht, kann man gar nicht verhindern, dass er dabei eine Menge lernt.“

Wenn Schule aber nicht mehr Pauken und Prüfen ist, was ist sie dann? Und wie ist es überhaupt möglich, dass eine staatliche Schule so komplett anders tickt als andere? Die Geschichte des Experiments ist ein Lehrstück über ungeahnte Freiheiten. Und darüber, dass dem Fortschritt häufig eine Krise vorausgeht.

Diese Krise erreichte die Gemeinde, deren Häuser sich wie eine Herde um die prosperierenden Aluminiumwerke Wutöschingen gruppieren, im Jahr 2009. Forscher des Fritz-Erler-Forums prognostizierten damals, dem Dorf würden binnen weniger Jahre die Schüler ausgehen. Stefan Ruppaner und der Bürgermeister Georg Eble erkannten die Gefahr. „Uns war bewusst, dass eine Schließung eine Abwärtsspirale in Gang setzen würde“, erzählt Eble im Amtszimmer des Rathauses. „Ohne Schule im Ort ziehen die jungen Familien weg, neue kommen gar nicht mehr, und den Unternehmen fehlen die Fachkräfte. Früher oder später machen dann auch der Supermarkt und die letzte Arztpraxis zu. Feierabend.“

Ruppaner hatte zu diesem Zeitpunkt schon seit Längerem über eine andere Art von Schule nachgedacht. Er ist 60 Jahre alt, Typ James Gandolfini mit Brille, Vater von drei Kindern und seit 35 Jahren Lehrkraft. Er spielt Bass in einer Partyband, sitzt seit zwei Dutzend Jahren für die Freien Wähler im Gemeinderat und nach Möglichkeit freitagabends am Musikerstammtisch im Gasthaus zum Adler. Sich selbst beschreibt er als „ziemlich geselligen Typen“.

Er kann aber auch widerborstig sein. Bürgermeister Eble erzählt, wie sie neulich bei der Stuttgarter Kultusministerin Susanne Eisenmann fast aus dem Büro geflogen wären: „Der Stefan wurde im Laufe unserer Diskussionen einfach immer lauter. Ich musste ihn unterm Tisch treten, um ihn ein bisschen zur Ruhe zu bringen. Und die Ministerin hat uns beim Rausgehen gesagt, dass sie Gespräche in einer solchen Form absolut nicht gewohnt sei. Wenn Stefan etwas wirklich will, ist er extrem hartnäckig.“

Grund der Aufregung war das revolutionäre Wutöschinger Schulkonzept. Auf die Idee dazu hatte Ruppaner vor vielen Jahren ein Dokumentarfilm des Journalisten Reinhard Kahl gebracht. „Treibhäuser der Zukunft“ zeigte Schüler, die sich selbsttätig ihren Lernstoff organisierten, und Schulen, die mit alternativen Ansätzen erstaunliche Bildungserfolge erzielen. „Bis dahin waren Achtklässler für mich immer potenzielle Problemfälle, die man eigentlich ständig beaufsichtigen muss“, sagt Ruppaner. „Die Erkenntnis, dass es auch anders und besser gehen könnte, als wir es machten, ließ mich seither nicht mehr los.“

Die drohende Schließung seiner Schule veranlasste ihn, zur Tat zu schreiten. Dabei kam ihm gelegen, dass die rot-grüne Landesregierung gerade sogenannte Gemeinschaftsschulen errichtete, in denen Haupt-, Real- und Gymnasialschüler gemeinsam unterrichtet werden. An dieses Umbauprojekt dockte Ruppaner sein Experiment an.

Bürgermeister Eble brachte in einer Art Flucht nach vorn die insgesamt 7,2 Millionen Euro für den Umbau der Altbauten und den Bau des neuen Schulgebäudes zusammen (2,2 Millionen Euro kamen vom Land Baden-Württemberg aus Schulfördermitteln. Das Kollegium der Werkrealschule wiederum stimmte nicht zuletzt deshalb für das Experiment, weil ihm bei einer Schulschließung Versetzungen an andere Standorte drohten.

Hühnerställe und Glasleuchten

Bei der Umsetzung des neuen Konzeptes half der Schweizer Bildungsunternehmer Peter Fratton. Ruppaner hatte ihn in einer Mischung aus Naivität und Chuzpe einfach angerufen, und welches Kaliber er da an Land geholt hatte, erahnte er erst, als Fratton in einer Limousine mit Chauffeur zum Kennenlernen anreiste. Der Berater, der unter Pädagogen nicht unumstritten ist, brachte auch gleich seine Ehefrau mit ins Wutachtal. Die Innenarchitektin Doris Fratton entwarf für die Acht- bis Zehntklässler dann einen Erweiterungsbau, der mit klassischer Schuleinrichtung wenig gemein hat.

Im Erdgeschoss des sogenannten Weißen Hauses befindet sich der Marktplatz mit Mensa, Pausenhalle, Sitzecken und Meeting-Räumen unterschiedlichen Zuschnitts. Auf Socken – ihre Schuhe müssen an dieser Stelle alle Schüler und Lehrer ausziehen – geht es von dort eine Treppe hoch zu den Lernateliers. Die bibliotheksähnliche Arbeitslandschaft ist mit dicken Teppichen, schallschluckenden Decken und individuellen Arbeitsplätzen für Schüler und Lehrer ausgestattet.

Einige Schreibtische stehen in zweistöckigen Holzgestellen, deren Spitzname „Hühnerställe“ darüber hinwegtäuscht, dass es sich um Notlösungen handelt: Weil Schule und Gemeinde das Geld für einen ausgedehnten Schulbau fehlte, entschloss man sich, in die Höhe zu bauen und Arbeitsplätze in der Vertikalen unterzubringen. Was sofort ins Auge sticht, sind die bunten Glasleuchten unter der Decke (die stammen, wie man später erfahren wird, von iranischen Kunsthandwerkern). Besonders auffällig ist zudem die Stille, die hier herrscht. Acht- bis Zehntklässler arbeiten in den Lernateliers manchmal allein, manchmal in Grüppchen und mit Lehrern – vor allem aber gespenstisch leise.

Während man noch überlegt, wie leichtsinnig es eigentlich ist, ein Schulgebäude mit gläsernem Kunsthandwerk und empfindlicher Auslegeware auszustatten, wischt Ruppaner alle Bedenken beiseite: „Wer vandalensichere Schulen baut, erzieht Vandalen“, zitiert er flüsternd die Innenarchitektin Fratton, ergänzt dann das Zitat mit einem Satz des italienischen Erziehungswissenschaftlers Loris Malaguzzi: „Der Raum ist der dritte Pädagoge.“ Soll heißen: Für den Lernerfolg von Schülern ist der Unterrichtsort fast genauso entscheidend wie ihre Mitschüler und Lehrer. „Und warum“, so Ruppaner weiter, „sollte eine Schule eigentlich schlechter ausgestattet sein als eine Bank?“

Einen guten Teil ihrer Zeit verbringen die Schüler allerdings nicht in den Schulhäusern. Bürgermeister Eble hat dem schuleigenen Heimatclub seinen Sitzungssaal – „den nutzen wir sonst ohnehin nur alle paar Wochen für ein paar Stunden Gemeinderatssitzung“ – und dem Bläserorchester seinen Rathauskeller überlassen. Der Weltreligionen-Club der Schule trifft sich in der Unterkirche, das Nutztiere-und-Nutzpflanzen-Projekt packt auf einem 20 Fußminuten entfernten Biobauernhof mit an, die Technikschüler werden in der Lehrwerkstatt des Aluminiumwerks unterrichtet. Auf diese Weise wird die Schule ins Dorf und das Dorf in die Schule gebracht. Im Gegenzug sind nämlich rund 40 Rentnerinnen, Mütter, Ingenieure und andere Freiwillige aus dem Ort jede Woche für ein paar Stunden als freiwillige Lernhelfer in der Schule tätig.

Man darf sich die Ganztagsschule nicht als Einrichtung vorstellen, in der jeder macht, was er will. Auch dort scheitern jedes Jahr ein bis zwei Prozent der Schüler. „Wir werfen uns hier keine rosafarbenen Wattebäusche zu“, sagt Ruppaner, ihr Lernexperiment lebe nicht von diffuser Toleranz, sondern dank klarer Regeln. Letztlich, sagt der Rektor, während er seinen Laptop aufklappt, gehe es bei alledem um Haltung.

Auf seinem Bildschirm ist jetzt eine Präsentation mit Fotos von üppig gedeckten Tischen und Kleinkindern zu sehen, die sich widerwillig füttern lassen. „So funktioniert klassisches Lernen: Die Schüler müssen auslöffeln, was man ihnen als Standardmenü vorsetzt.“ Ein paar Klicks weiter sieht man ein Büfett mit unterschiedlichsten Speisen. „Das ist unser Ansatz: Wir eröffnen das Büfett und definieren die Tischmanieren, aber essen muss natürlich jeder selbst. Es muss auch jeder Lernpartner selbst dafür sorgen, sich das Essen so zuzubereiten, dass es ihm schmeckt.“

Das scheint zu funktionieren, denn bei den standardisierten Vera-Vergleichstests, die Achtklässler überall in Deutschland jedes Jahr absolvieren, schneiden die Wutöschinger überdurchschnittlich gut ab. Ruppaner klickt sich durch die Ergebnisse seiner Schüler in den Kernfächern Englisch, Mathe und Deutsch: Überall ist der Anteil der schwächsten Arbeiten geringer als im Gemeinschaftsschulendurchschnitt. Noch auffälliger aber ist, dass der Anteil der besten Ergebnisse deutlich über dem Durchschnitt der Gemeinschaftsschulen und oft sogar über dem der Realschulen des Landes liegt. „Wir hängen bei uns weniger Schüler ab als andere Schulen. Und wer richtig gut ist, kann bei uns auch richtig Gas geben“, erläutert Ruppaner.

Wie ist ein solches Experiment an einer staatlich finanzierten und reglementierten Schule überhaupt möglich? Ist es legal, die klassischen Prinzipien von Lehren und Lernen über den Haufen zu schmeißen? Und falls ja: Wieso tun es nicht mehr Schulen?

„Der Witz ist“, sagt Ruppaner beim Gang über den Schulhof, „nirgendwo steht geschrieben, dass Unterricht in Klassen und durch Klassenlehrer stattzufinden habe. Nirgends. Aber weil die Strukturen eben so gewachsen sind und weil es alle so machen, machen es alle eben so.“

Zurück im Schulsekretariat wird der Rektor von dem Lehrer Dieter Umlauf abgefangen: Ein Elternpaar möchte seine Tochter für ein Jahr mit nach Paraguay nehmen – was tun? „Kein Problem, den Stoff zieht sich die Julia dort über DiLer herunter“, entscheidet Ruppaner knapp. Oberstudienrat Umlauf gehört zu jenen Lehrern, die extra wegen des Projektes nach Wutöschingen gewechselt sind. Der 57-Jährige verantwortet den Aufbau der gymnasialen Oberstufe, die der Gemeinschaftsschule nach langem Kampf genehmigt wurde und für die neben dem Weißen Haus ein weiterer, rund acht Millionen Euro teurer Neubau geplant ist. Umlauf: „Nachdem ich die Schule kennengelernt hatte, haben meine Frau und ich unser Haus in Fulda verkauft und sind in den Süden gezogen.“ Warum? „In Fulda hätte ich natürlich die zehn Jahre bis zu meiner Rente eine ruhige Kugel schieben können. Hier aber kann ich noch etwas bewegen.“

Wenn Umlauf beispielsweise im Englischunterricht das Thema New York durchnimmt, muss er seine Schüler nicht mehr Texte in einem zwangsläufig nicht mehr ganz aktuellen Schulbuch durcharbeiten lassen („Im schlimmsten Fall stehen da auf den Fotos noch die Twin Towers“). An der Alemannenschule kann er sie stattdessen mit iPad und ein paar Links direkt zu Erkundungsgängen durch den Big Apple schicken und ihre eigenen Entdeckungen machen lassen. „Und jetzt raten Sie mal, was Schüler mehr motiviert!“

Aus dem einstigen Sorgenkind ist so ein echter Anziehungspunkt geworden. Längst kann die Alemannenschule nicht mehr alle Kinder einschulen, die gern aufgenommen werden wollen; mehr als ein Dutzend Familien sind in den vergangenen Jahren extra hergezogen, um als Ortsansässige ihre Chancen bei der Schulplatzvergabe zu erhöhen. Aus ganz Europa, selbst aus Australien und China kommen Pädagogik-Touristen in den Südschwarzwald, um sich vor Ort ein Bild von dem Wutöschinger Experiment zu machen.

„Das Schulprojekt hat wahnsinnig viel bewegt“, sagt Bürgermeister Georg Eble. „Traurig ist es nur in den Ferien, wenn es hier im Rathaus seltsam still ist. Dann fehlen die Kinder einfach.“ ---

Quelle: brandeins.de | 2020