Presseschau - Noten sind kontraproduktiv

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"Vermittelt kein nachhaltiges Wissen" - Schulleiter fordert: Schafft die Schule ab

FOCUS-Online-Redakteurin Lisa Kleine; 22.05.2019

Kann die Schule jungen Menschen auf die Komplexität der heutigen Zeit vorbereiten? So wie sie jetzt funktioniert nicht, glaubt Oliver Hauschke. Der Lehrer und selbst Vater von zehn Kindern ist überzeugt: "Momentan bereiten wir unsere Kinder auf unsere Vergangenheit vor und nicht auf deren Zukunft."

"Stellen Sie sich vor, sie würden gerne Bäcker werden wollen und darüber, ob sie erfolgreich die Gesellenprüfung ablegen, entscheidet mit, wie gut sie eine Mauer hochgezogen und eine Heizung eingebaut haben“, schreibt Oliver Hauschke in seinem neu erschienen Buch "Schafft die Schule ab". Die Botschaft des Schulleiters und zehnfachen Vaters wird darin schnell klar: In der Form, in der Schule heute existiert, funktioniert sie nicht.

Denn wir leben in einer Welt, die immer komplexer wird. Aber statt unsere Kinder dafür angemessen auszubilden, bereiteten wir sie eher auf eine Welt vor, die längst Vergangenheit ist. Der Lehrer ist daher sicher: "Wir sollten mehr Mut zur Vielfalt aufbringen und die Schüler/innen frühzeitiger stärker nach eigenen Interessen, Talenten und Schwerpunkten entscheiden lassen, welchen Fächern und Themen sie sich verstärkt zuwenden." Und streichen könnte man auf der Liste der verpflichtenden Inhalte sowieso eine Menge.

Wir haben Oliver Hauschkes Thesen im Gespräch hinterfragt.

FOCUS Online: Herr Hauschke, Sie sagen, wir sollten die Schule abschaffen. Warum?

Oliver Hauschke: Ich glaube, so wie Schule momentan funktioniert, vermittelt sie unseren Kindern kein nachhaltiges Wissen und keine nachhaltige Bildung. Und das muss eigentlich Ziel sein. Wenn eine Einrichtung zwischen zehn und dreizehn Jahre unserer Kinder in Anspruch nimmt und im Endeffekt das Ergebnis sehr gering ist, dann brauchen wir die Schule nicht – zumindest in dieser Art nicht. Wir haben durchaus gute Schulen in Deutschland, aber die Zahl derer ist verschwindend gering. 

FOCUS Online: Was macht aus Ihrer Sicht denn eine gute Schule aus?

Hauschke: Eine gute Schule muss Kindern beim Lernen unterstützen, sie begleiten und motivieren. Sie muss Schülern Freiräume bieten, das zu lernen, was sie möchten – und wann sie es möchten. Wenn ein Schüler beispielsweise im Physikunterricht merkt, dass er nach 90 Minuten mit einem Problem noch nicht fertig ist und gerne weiterarbeiten möchte, dann wird er an heutigen Schulen herausgerissen und muss zum Beispiel Französisch lernen. Das Kind ist also geistig mit einem Problem beschäftigt, was es gerne lösen möchte, soll sich aber gleichzeitig auf ein anderes Thema konzentrieren, was momentan nicht im eigenen Interessenbereich liegt. Wenn das Kind deswegen geistig abwesend ist oder sich nicht anstrengt, bekommt es eine negative Bewertung. Am Ende ist der Lernerfolg in dem einen sowie dem anderen Fach nicht der, der er sein könnte.

Auch zwingen wir ältere Schüler schon zwischen 7.30 und 8.10 Uhr in die Schule und lassen sie zu einem Zeitpunkt aufstehen, wo sie nach 

FOCUS Online: Herr Hauschke, Sie sagen, wir sollten die Schule abschaffen. Warum?

Oliver Hauschke: Ich glaube, so wie Schule momentan funktioniert, vermittelt sie unseren Kindern kein nachhaltiges Wissen und keine nachhaltige Bildung. Und das muss eigentlich Ziel sein. Wenn eine Einrichtung zwischen zehn und dreizehn Jahre unserer Kinder in Anspruch nimmt und im Endeffekt das Ergebnis sehr gering ist, dann brauchen wir die Schule nicht – zumindest in dieser Art nicht. Wir haben durchaus gute Schulen in Deutschland, aber die Zahl derer ist verschwindend gering. 

FOCUS Online: Was macht aus Ihrer Sicht denn eine gute Schule aus?

Hauschke: Eine gute Schule muss Kindern beim Lernen unterstützen, sie begleiten und motivieren. Sie muss Schülern Freiräume bieten, das zu lernen, was sie möchten – und wann sie es möchten. Wenn ein Schüler beispielsweise im Physikunterricht merkt, dass er nach 90 Minuten mit einem Problem noch nicht fertig ist und gerne weiterarbeiten möchte, dann wird er an heutigen Schulen herausgerissen und muss zum Beispiel Französisch lernen. Das Kind ist also geistig mit einem Problem beschäftigt, was es gerne lösen möchte, soll sich aber gleichzeitig auf ein anderes Thema konzentrieren, was momentan nicht im eigenen Interessenbereich liegt. Wenn das Kind deswegen geistig abwesend ist oder sich nicht anstrengt, bekommt es eine negative Bewertung. Am Ende ist der Lernerfolg in dem einen sowie dem anderen Fach nicht der, der er sein könnte.

Auch zwingen wir ältere Schüler schon zwischen 7.30 und 8.10 Uhr in die Schule und lassen sie zu einem Zeitpunkt aufstehen, wo sie nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eigentlich in ihrer zweiten Tiefschlafphase wären. Gute Schule muss solche Dinge, die wir aus der Entwicklungspsychologie, der Chronobiologie, der Hirnforschung etc. kennen, berücksichtigen.All das, was Schulen im Augenblick machen, nämlich Noten geben, Schülern zu bestimmten Zeitpunkten ihr Versagen vorzuhalten, sie darauf zu eichen, dass lernen nur dann sinnvoll ist, wenn es in der Schule mit Lehrern stattfindet und mit irgendwelchen Ziffern versehen wird, ergibt keinen Sinn.

FOCUS Online: Sie halten Notengebung also für kontraproduktiv?

Hauschke: Ich halte Noten per se für ungerecht und auch für kontraproduktiv. Wir haben 30 Schüler in einer Klasse und oft um die 1000 Schüler in weiterführenden Schulen. Das sind 1000 Individuen. Diese in ein Ziffernsystem von eins bis sechs zu stecken, macht gar keinen Sinn. Ich kann auch als Lehrer im Grunde nicht differenzieren: Ist eine Note eine 3-, eine 3 oder ist sie schon eine 4+. Es ist definitiv so gut wie unmöglich, 30 Individuen in so ein enges Raster zu zwingen.

Auch lernen Schüler ja nicht um des Lernen Willen, sondern ausschließlich für eine Note. Sie wissen, eine Note bedeutet ein gewisses Vorankommen oder Scheitern in unserer Gesellschaft. Daher ist sie für sie überlebenswichtig. Wenn ich Unterricht gebe, dann ist am Ende einer Stunde oft die Frage: Was bekomme ich heute für eine Note? Wir reden selten oder fast nie darüber, was nachhaltig gelernt worden ist und wo jemand vielleicht noch Schwierigkeiten hat.

Wir müssen uns davon verabschieden, dass wir glauben, wenn ein Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt ein völlig willkürlich festgelegtes Thema in irgendeiner Weise wiedergeben kann, dass er besser ist oder mehr gelernt hat als ein Schüler, der das zu diesem Zeitpunkt nicht kann. Schüler lernen einfach individuell. Wir legen willkürlich einen Maßstab fest. Danach beurteilen wir, ob jemand es wert ist, weiterzukommen. Damit zeigen wir auch gesellschaftlich, dass es Menschen gibt, die mehr wert sind als andere. Ob man das jetzt so wie in der Schule   über Zeugnisse und Noten macht oder wie in Indien über ein Kastensystem oder wie im Mittelalter über die Ständeordnung – im Grunde ist es das Gleiche.

FOCUS Online: Wie könnten Schulen denn gerechter vorgehen?

Hauschke: Ich denke, wir müssen uns davon verabschieden, dass wir alles in der Schule zu beurteilen haben. Meine Kinder werden sogar darin beurteilt, wie gut sie einen Kopfsprung von einem Sprungbrett im Schwimmbad machen. Ich weiß nicht, wie lebensrelevant das ist.

Junge Menschen merken sehr schnell, ob sie etwas gelernt haben oder nicht und sind bemüht, Dinge hinzubekommen. Wenn ich einem Schüler sage: „Du hast hier ein Wort, das du fast richtig geschrieben hast, zwei Buchstaben hast du nur falsch.“ Dann ist er daran interessiert, welche Buchstaben er falsch gemacht hat. Dann muss ich ihm nicht erst eine Vier geben, um ihn zum Lernen zu motivieren.

Es gibt unzählige Möglichkeiten, Feedback zu erhalten und zwar auf positive Art und Weise. Die beste Rückmeldung ist immer noch die von Gleichaltrigen, denn von diesen lernen Schüler am meisten, auch in Bezug auf Verbesserungsmöglichkeiten. Konstruktive Kritik von Gleichaltrigen wird weniger negativ wahrgenommen. dadurch eher angenommen und erfolgt auch stärker in einem gegenseitigen Austausch als in der Bewertung von oben herab, wie bei Lehrern.

FOCUS Online: Müsste dann der Lernfortschritt nicht auch irgendwie gemessen werden?

Hauschke: Bei meiner Tochter in der Grundschule zum Beispiel gibt es einen Baum und in dem Baum wird immer ein Blatt angemalt, wenn der Schüler schon etwas gut kann und man sieht, was er noch machen muss. Daraus ergibt sich keine Note, sondern ein gewisses Pensum, das der Schüler erarbeiten muss. Das wäre zum Beispiel eine Möglichkeit, den Lernfortschritt anzusehen. Dann muss ich nicht noch sagen, der Schüler hat eine Eins, Zwei oder Drei darin geschafft. Vielmehr kommt es darauf an, dass er sich grundsätzlich mit einer Thematik beschäftigt und davon gelernt hat.

Das heißt, ich schaffe ein gewisses Pensum, das gelernt werden sollte. Das kann ich bis Jahrgang 10 machen oder bis Jahrgang 12 oder 13 für das Gymnasium und kann am Ende feststellen, ob ein Schüler es geschafft hat, sich Wissen in diesem umfangreichen Pensum anzueignen.

FOCUS Online: Der Lehrer wäre dann also eher eine unterstützende Kraft und der Schüler hat selbst in der Hand, wann er sich was, wie aneignet?

Hauschke: Richtig. Wir haben leider nur viel zu viel Angst davor, weil wir glauben, dass diese Selbstständigkeit der Kinder nicht funktionieren würde. Weil wir sie ihnen über die ganze Entwicklung der Schule abtrainiert haben.

Ich habe zehn Kinder und ich sehe es in meiner eigenen Familie, wie stark sowohl die älteren Kinder lernen, weil sie den Jüngeren etwas beibringen und wie schnell die Jüngeren Dinge lernen von den Älteren, die die Älteren zu diesem Zeitpunkt nicht konnten. Und wir wissen aus Studien, dass Kinder am besten zu zweit lernen und von Kindern lernen. Auch lernen die Jüngeren stärker von den Älteren, weil die es so erklären, dass die Kinder es auch verstehen und weil sie einfach noch näher dran sind. Die älteren Schüler wiederum internalisieren das Erlernte viel besser, weil sie es erklären. Aber wir nutzen das nicht.

Wir müssen den Mut wieder aufbringen, das Ganze zu öffnen, mehr projektorientiert arbeiten, Klassenräume und Klassenverbände aufzulösen, Klassen. Wir müssen Schule zu einem offenen Lehrraum machen, indem Schüler viel stärker selbstbestimmt voneinander lernen und Lehrer darin nur Lernbegleiter sind, die helfen, wenn Fragen aufkommen, die in Projekte einführen und motivierend Probleme aufstellen, an denen die Schüler sich thematisch abarbeiten können.

FOCUS Online: Eine weitere These von Ihnen ist, dass Schule moderner werden muss, um die jungen Menschen auf die Komplexität der heutigen Zeit vorzubereiten. Können Sie hier ein Beispiel geben, wie und wo sich die Schule hier wandeln müsste?

Hauschke: Unser Wissen steigt exponentiell jeden Tag. Schüler lernen aber immer noch mehr oder weniger das gleiche, was ich und meine Eltern gelernt haben. Wir haben einen bestimmten Kanon an Fächern, von dem wir seit Jahrzehnten glauben, der würde eine vertiefte Allgemeinbildung repräsentieren und nur damit hat man eine Berechtigung als gebildeter Mensch von der Schule zu gehen. Was wir aber nicht tun, ist zum Beispiel Erkenntnisse der modernen Welt umzusetzen: Computer fehlen in ausreichendem Maß, ebenso wie der Einsatz von Laptops, Tablet-Computern und Smartphones.

Wir zwingen unsere Schüler, eine zweite oder dritte Fremdsprache zu lernen, weil wir glauben, eine Fremdsprache bedeutet Bildung. Wir lassen sie aber nicht lernen: Wie funktionieren Computerprogramme, wie schreibe ich einen Algorithmus, warum bekomme ich andauernd die gleiche Werbung bei Google? Also all diese Dinge, die unser modernes Leben prägen.

Sicher brauchen wir ein gewisses Grundportfolio an grundlegenden Fertigkeiten, die Schüler können müssten. In Deutsch sollte zum Beispiel die Rechtschreibung in Ordnung sein. Man sollte lernen, Texte zu verstehen. Bestimmte mathematische Grundkenntnisse sind notwendig usw. Über die Grundfertigkeiten hinaus sollten wir Schülern dann aber die Möglichkeit geben, aus einem umfangreichen Spektrum an Lerninhalten und Fächern auszuwählen.

Wir müssten ein Stück weit versuchen, das, was uns das moderne Leben und die moderne Wissenschaft gibt, auch in die Schule in einer reduzierten Form einzubringen. Und die Kinder und Jugendlichen so besser auf ihre Zukunft vorbereiten. Wir müssen ihnen Wissen vermitteln, mit dem sie etwa anfangen können, wenn sie in die Welt als Erwachsene entlassen werden. Denn sie leben in einer völlig anderen Realität, als wir sie jetzt haben und in der Vergangenheit hatten. Momentan bereiten wir unsere Kinder auf unsere Vergangenheit vor und nicht auf deren Zukunft.

 

Über Oliver Hauschke:

Oliver Hauschke studierte Wirtschaftswissenschaften, Geschichte und Politik. Seit 2000 unterrichtete er verschiedene Fächer an Gymnasien und Gesamtschulen. Als Schulleiter baute er ab 2009 erfolgreich eine gymnasiale Oberstufe auf. Er ist Vater von zehn Kindern, sechs davon schulpflichtig. Einst Fürsprecher klassischer Schulbildung, sieht er heute die Dringlichkeit radikaler Veränderungen in unserem Bildungswesen, erlebte er doch selbst, wie schwierig dies in Schulen wirklich ist.

 

Quelle: focus.de | 22.05.2019