Presseschau - "Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach: Die Täter und Täterinnen sind mitten unter uns"

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Der Prozess zum Kindesmissbrauchskomplex Bergisch Gladbach hat gleich mehrere Dinge gezeigt, meint Vivien Leue. Dass die juristische Aufarbeitung solcher Fälle funktioniert, aber auch, dass bessere Ermittlungsmethoden notwendig sind und der Kampf gegen Kindesmissbrauch gesellschaftliche Aufgabe ist.

Das Urteil gegen den 43 Jahre alten Familienvater aus Bergisch-Gladbach, der seine kleine Tochter wiederholt vergewaltigt und schwer sexuell missbraucht hat, zeigt: Die juristische Aufarbeitung solcher Taten funktioniert. Der Fall zeigt aber auch: Sie funktioniert nur, wenn die Taten überhaupt erst entdeckt werden. Wenn aus anonymen Chat-Namen reale Namen werden, wenn Bild-Daten zu Tätern führen. Und das passiert leider noch viel zu selten.

In Bergisch Gladbach deckte die Polizei Ende Oktober vergangenen Jahres wohl einen Fall von schwerem Kindesmissbrauch auf – und brachte einen Ermittlungskomplex ins Laufen, dessen ganze Dimension immer noch nicht absehbar ist.

Denn auch das hat der Fall des 43-Jährigen gezeigt: Er ist bei weitem kein Einzeltäter. Sexueller Kindesmissbrauch ist ein Massenphänomen. Allein in den Chats und Netzwerken des jetzt Verurteilten finden sich mehr als 30.000 Datenspuren, die zu neuen Ermittlungen führen können, es gibt schon mehr als 200 Verdächtige.

Also schaut hin, möchte man fast schreien

Überraschen kann das eigentlich kaum noch jemanden. Schon lange wissen wir: Statistisch gesehen sitzt in jeder Schulklasse mindestens ein Kind, das Opfer sexueller Gewalt geworden ist. Auch die Fälle von Lügde oder Münster und so viele andere haben gezeigt: Jeden Tag werden Kinder missbraucht, überall, mitten unter uns, vielleicht im Nachbarhaus. Also schaut hin, möchte man fast schreien – denn die mehr als zweistündige Urteilsbegründung heute hinterlässt natürlich Spuren.

Der im sogenannten Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach Angeklagte ist zu 12 Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann sei kein „kriminelles Mastermind“, sondern jemand „aus der Mitte der Gesellschaft“, sagte Julia von Weiler von „Innocence in danger“.

Die Taten, zum Teil detailliert geschildert, machen fassungslos und wütend. Und dann sitzt da dieser Mann, dieser 43 Jahre alte Familienvater, der gar nicht aussieht wie ein Monster. Denn auch das zeigt dieser Fall: Die Täter – und vereinzelt auch Täterinnen – sind mitten unter uns. Nein, man sieht es ihnen eben nicht an, was sie hinter verschlossenen Kinderzimmertüren tun. Aber das darf keine Entschuldigung sein, dass so viele Fälle nicht entdeckt, stattdessen aber unzählige Kinderleben zerstört werden.

Teufelskreise müssen durchbrochen werden

Es braucht noch bessere Ermittlungsmethoden und eine Polizei, die entsprechend ausgestattet ist. In Nordrhein-Westfalen ist der Kampf gegen Kindesmissbrauch mittlerweile fest im Innenministerium verankert. Polizeibehörden vernetzen sich mit dem Landeskriminalamt. Nun müssen andere Bundesländer folgen.

Und: Das Unaussprechliche muss ausgesprochen werden. Es darf kein Tabu – oder wie in der Herkunftsfamilie des Täters passiert – Familiengeheimnis sein, wenn sexueller Missbrauch stattfindet. Zu allerletzt hat auch das dieser Fall gezeigt: Missbrauch kann sich über Generationen fortsetzen. Die Mutter des Täters soll ihn erlebt haben, der Täter selbst, der dann später seine Tochter quälte. Solche Teufelskreise müssen durchbrochen werden. Und dafür sind nicht nur Polizei und Gerichte zuständig, sondern jeder einzelne von uns.

Quelle: deutschlandfunk.de | 06.10.2020