Presseschau - "Eine Grundschule ohne Tablet ist das Gegenteil von weltfremd"

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 „Eine Grundschule ohne Tablets ist das Gegenteil von weltfremd“

Von Peter Hanack

Paula Bleckmann, Expertin für Computerspielsucht, erklärt, warum es für das frühe Lernen Wichtigeres gibt als WLAN, Smartboards und Vokabeltrainer auf dem Smartphone.

Unlängst, auf der weltgrößten Bildungsmesse Didacta in Köln, umgeben von einer multimedialen Überwältigung an Monitoren und Lerncomputern, packt Paula Bleckmann ein kleines hölzernes Kästchen aus einer Pappschachtel. Es ist eine simple Drehorgel. Auf einem Papierstreifen hat sie „DIDACTA“ eingestanzt. Wenn der Streifen durch die Orgel läuft, erklingt eine einfache Melodie. Loch oder kein Loch, das ist wie ein binärer Code, sagt Bleckmann. Man kann damit Musik machen - und den Zusammenhang von digitalen Medien und einer analogen Tonfolge vorführen. Denn Lernen für die sich digitalisierende Welt, das geht auch ohne Tablet und Smartphone, ist sie überzeugt. 

Frau Professor Bleckmann, brauchen Grundschulen WLAN, Whiteboards und Tablets?
Brauchen sie nicht.

Warum nicht?
Es gibt eine ganze Reihe von anderen Dingen, die wichtiger sind. Gute Lehrer, sozial und fachlich kompetent mit modernen Lehrmethoden, eine gut ausgestattete Turnhalle, Platz im Freien, Theater-Projekte, eine umfangreiche Bücherei, Schulsozialarbeiter, genügend Unterstützung für Familien und so weiter.

Unterricht mit digitalen Medien kann gerade schwächere Schüler zum Lernen motivieren, sagen Lehrkräfte und Studien wie eine der TU München von 2017. Da können Kinder Vokabeln lernen und bekommen dazwischen ein Video gezeigt oder drehen gleich selbst einen kurzen Film. Außerdem sind ihnen die Geräte ja zumeist von zu Hause vertraut.
Das stimmt absolut. Erstens ja, Bildschirmmedien sind der jungen Generation von zu Hause oft sehr vertraut. Viele Lehrkräfte meinen: allzu vertraut. Und zweitens, ja, man kann digitale Medienprodukte so gestalten, dass sie die Motivation kurzfristig sehr erhöhen, so sehr, dass man zum Teil gar nicht mehr aufhören möchte.

Ist das nicht das, was jeder Lehrer sich erträumt, dass seine Schüler gar nicht mehr aufhören wollen damit, Vokabeln zu lernen?
Nachhaltiges Lernen, Dinge wirklich verstehen, sie durchschauen und gestalten zu können, das setzt bei jungen Menschen echte Erfahrungen voraus. Die Basis dazu liegt nicht am Bildschirm, sondern im echten Leben. Ein Kind, das am Tablet Rechenaufgaben löst oder eben Vokabeln paukt und nach jeder zehnten richtigen Antwort ein kleines Spiel spielen darf, um die Motivation zu erhöhen, erfährt eine extrinsische Motivierung.

Das müssen Sie erklären.
Der Schüler lernt nicht die Vokabeln, weil er einen Brieffreund hat, oder löst die Rechenaufgaben, weil es ihm einfach Spaß macht, was eine intrinsische Motivation wäre, sondern weil er von außen eine Belohnung bekommt. Das Lernen ist also ein notwendiges Übel, um Daddeln zu dürfen. Für jeden kleinen Erfolg gibt es eine kleine Belohnung, im Hirn wird Dopamin ausgeschüttet, also ein Glückshormon. Das korrumpiert das Belohnungssystem im Kopf.

Ist das ein Problem für das Lernen?
Für die langfristigen Lernerfolge schon. Ich erklär dazu mal das Marshmallow-Experiment.

Bitte.
Man hat Kindern einen Marshmallow auf den Tisch gelegt und ihnen die Entscheidung überlassen, ob sie den sofort essen wollen oder ob sie noch einen zweiten haben wollten. Dann mussten sie eine Zeitlang warten. Manche konnten warten und haben zwei bekommen, andere wollten sofort naschen.

Was heißt das für die Lern-Apps, über die wir reden?
Die Apps basieren auf diesem System der Sofort-Belohnung. Sie führen dazu, dass die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub verlernt oder erst gar nicht erlernt wird. Jahre später haben die Forscher die Kinder noch mal getestet. Jene, die schon früh den Bedürfnisaufschub beherrschten, also warten konnten, waren sozial kompetenter, in der Schule besser und beliebter, hatten bessere Chancen im Job und waren insgesamt zufriedener.

Sind digitale Medien also Gift fürs Lernen? Ich komme noch einmal auf die Studie der TU München zurück. Da heißt es auch, dass ein Mix aus analogem und digitalem Lernen die Leistungen verbessert.
Wenn wir von der Grundschule reden, gilt das so nicht. Die Studie der TU München bezieht sich auf die Sekundarstufe und ist eine Meta-Analyse vieler Einzelstudien. Sie zeigt, dass selbst für ältere Schüler digitale Medien das Lernen verhindern oder unterstützen können, je nachdem, von wem, für was und wie sie eingesetzt werden. Für besonders komplexe und abstrakte Inhalte, zum Beispiel zur Visualisierung chemischer Verbindungen, empfehlen die Autoren den Einsatz digitaler Medien. Wie sich Investitionen in innovative Lehrmethoden ohne digitale Medien auf die Schülerleistungen auswirken, haben sie aber gar nicht untersucht. Ich meine: Die Schüler würden Chemie wahrscheinlich noch besser verstehen, wenn sie chemische Verbindungen aus Kugeln und Stäbchen selbst zusammenstecken würden. Das ist mühsamer, es geht ja nicht auf Knopfdruck, aber nachhaltiger.

Und wie ist es in der Grundschule?
Die Timms-Studie zeigt, je mehr Einsatz von Bildschirmmedien bei Grundschülern, desto schlechter sind die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften. Ich will gar kein Bildschirm-Bashing betreiben, ich will auch kein absolutes Tabletverbot an Grundschulen. Nötig wäre es, zu einem angemessenen Zeitpunkt und in einem bedächtigen Tempo, eingeschränkt auf Bereiche, wo es einen Mehrwert gibt, mit digitalen Techniken zu arbeiten. Wenn wir das hinbekommen würden, wäre es gut.

Profitieren nicht gerade schwächere Schüler aus sozial schwachen Familien, weil ihnen das Lernen mit bewegten Bildern leichter fällt?
Im Gegenteil. Die soziale Schere geht leider sogar noch weiter auseinander. Kinder aus sozial benachteiligten Familien haben zu Hause fast doppelt so hohe Bildschirmzeiten wie andere. Sie sehen mehr fern, sie chatten mehr, sie schlafen weniger. Sie bekommen Spielkonsolen, Fernseher und Smartphones deutlich früher. Der „Digital-Zwang“ an Grundschulen, der de facto durch den Digitalpakt entsteht, verschlimmert die digitale Reizüberflutung. Die paar Stunden Vokabel-App sind dabei nicht das Schlimmste, sondern die Botschaft, die gerade in bildungsfernen Familien ankommt: Tablets sind gut fürs Lernen. Na dann kauf ich meinem Kind doch gleich auch für zu Hause eines. Praktiker erleben diese Problematik täglich. Eine Studie zeigt: Wenn man Erzieher und Grundschullehrkräfte fragt, wo sie gerne fortgebildet werden möchten, dann rangiert an Platz eins der Wunsch danach, zu erfahren, wie man mehr für die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen angesichts der langen Bildschirmzeiten tun kann. Und diese verringern kann.

Warum halten Sie diese für dermaßen schädlich?
Die Blikk-Studie der Stiftung Kind und Jugend zeigt, dass es dadurch zu Bindungsstörungen kommen kann. Noch besser belegt als Folgen sind Schlafstörungen, eine verzögerte Sprachentwicklung, Verlust an Empathie, schlechtere Schulleistungen, Haltungsschäden, Kurzsichtigkeit, Konzentrationsstörungen, suchtartige Nutzung. Deshalb müssen wir die Mediensuchtprävention ernst nehmen oder, allgemeiner, die Vorbeugung gegen problematische Bildschirmmediennutzung.

Wie sollte das Ihrer Ansicht nach geschehen?
Am besten klappt das, wenn die Kinder stark im Leben verankert sind, Stichwort „real life first“, gut in der Peer-Group verankert sind, eine tragfähige Beziehung zu den Eltern haben, im Verein Fußball spielen, das sind die stärksten Schutzschilder. So schaffen wir die Basis für einen späteren Erwerb von Medienkompetenz. Das Sprichwort „Früh übt sich, wer ein Meister werden will“, das stimmt für digitale Medien nicht. Oder was glauben Sie, warum Jeff Bezos, Bill Gates und auch der verstorbene Steve Jobs ihren eigenen Kindern erst mit 14 Jahren oder noch später die ersten eigenen Bildschirmgeräte erlaubt haben?

Aber man schafft in der Grundschule eine Parallelwelt, wenn dort die Handys und Tablets außen vor bleiben.
Ich höre in diesem Zusammenhang auch oft das Wort „weltfremd“. Was ist denn damit gemeint? Wir sprechen über Kinder, die draußen einen Schmetterling sehen und über die Fensterscheibe wischen, um ihn zu vergrößern. Und wenn das nicht klappt, denken sie, die Scheibe ist kaputt. Das nenne ich weltfremd, wenn die Welt vor allem aus Bildschirmwelt besteht.

Was sagen Sie Eltern, die fürchten, ihr Kind könnte abgehängt werden, wenn es nicht früh den Umgang mit Computern lernt?
Abgehängt werden Kinder, wenn es kein gutes Medienkonzept gibt. Wenn die Bedienung schon fertiger Maschinen und Programme im Vordergrund steht, statt das Verständnis für die Grundlagen und die aktive Gestaltung. Man braucht keine Tablets, um fit für das digitale Zeitalter zu werden. Wir haben dazu die binäre Mama, die Murmel-addier-Maschine. Da rollen Kugeln und zeigen sehr anschaulich, wie die 1001001-Sprache der Computer funktioniert. Auf Elternabenden, wo wir das Material gezeigt haben, gab es immer wieder schöne Aha-Erlebnisse, wenn etwa jemand sagte, jetzt hab ich das endlich mit dem binären System verstanden. Man kann auch die Grundlagen des Programmierens lernen, indem man mit Kreide auf dem Schulhof unterwegs ist und ein Kreuz zeichnet.

Wie geht das?
Da steuert ein Schüler einen anderen, indem er ihn anweist, fünfzig Schritte nach vorne zu gehen, sich 90 Grad nach links zu drehen, wieder fünfzig Schritte zu machen, sich nach links zu drehen, fünfzig Schritte und sich nach rechts zu drehen und dabei seinen Weg aufzumalen. Und diesen Vorgang viermal zu wiederholen. Dabei entsteht ein gigantisches Schweizer Kreuz. Man kann das dann nachher im Klassenraum als kleinen Programmcode aufschreiben inklusive Loop, also der Wiederholungsbefehle. Und hat sich gleichzeitig an der frischen Luft bewegt.

Interview: Peter Hanack

Zur Person

Paula Bleckmann (47) ist Professorin für Medienpädagogik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. Die Diplom-Biologin und Expertin für Computerspielsucht ist Vorsitzende des Vereins Media Protect und Leiterin der Studiengruppe „Bildung und Digitalisierung“ in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Sie entwickelte mit Kollegen das Präventionsprogramm „ECHT DABEI – gesund groß werden im digitalen Zeitalter“ für Kindergärten und Grundschulen.

Sie ist die Tochter des SPD-Politikers und ehemaligen Club-of-Rome-Präsidenten Ernst Ulrich von Weizsäcker und der Biologin und Umweltaktivistin Christine von Weizsäcker. Bleckmann ist verheiratet und hat drei Söhne.

Quelle: fr.de | 07.05.2019