Presseschau - Eine Anthroposophie in der Defensive wäre ein Verlust

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Interview von Jens Heisterkamp mit Dr. Michael Blume dem  Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg 

Als Mitarbeiter im grün-schwarzen Staatsministerium in Stuttgart ist die Auseinandersetzung mit Antisemitismusfragen das tägliche Brot von Michael Blume. Auch problematische Äußerungen Rudolf Steiners sind schon zum Thema geworden. Warum sich Anthroposophen offen damit auseinandersetzen sollten und welche Chancen darin liegen können, erklärt er im Gespräch mit Jens Heisterkamp von der Zeitschrift info3.

Herr Blume, vor dem Hintergrund moderner Menschenrechts-Standards haben Sie einmal von einem „schrecklichen Altern“ historischer Texte gesprochen, von dem natürlich auch religiöse und esoterische Schriften betroffen sind. Was verstehen Sie darunter?

Ich glaube, dass wir gerade einen doppelten Umbruch erleben. Das betrifft einmal den medialen Umbruch durch die Digitalisierung, der mindestens solche Auswirkungen hat wie einst der Buchdruck: Durch sie werden zuvor interne Debatten öffentlich. Und hinzu kommt etwas, was auch die Anthroposophie, aber nicht nur die Anthroposophie betrifft, nämlich der Übergang in der Wissenschaft von der Induktion zur Falsifikation.

Was genau meinen Sie damit?

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt eine induktive Methode: Wissen wurde geschöpft, indem – meistens – Männer religiöses und philosophisches Wissen verkündet haben. Jetzt gilt für alles Wissen nur noch das Prinzip der Falsifikation und es soll nur noch das als Wissen gelten, was empirisch überprüft und gegebenenfalls auch widerlegt werden kann. Dieser zunehmend scharfe Blick fällt auf alle heiligen Texte und auch viele philosophische Werke. Das trifft Kant mit seinen teilweise rassistischen Äußerungen, das trifft Karl Marx mit seinem Antisemitismus, das trifft auch Rudolf Steiner.

Hängt das auch mit der Globalisierung zusammen, weil dadurch die verschiedensten Kulturen und Religionen in den Blick geraten sind, oder auch mit der Sensibilität innerhalb der Gesellschaft gegenüber Minderheiten?

Der klassische Liberalismus sagte, jeder hat seinen eigenen Freiheitsraum. Wenn da die einen einen Tempel eröffnen und die anderen eine Moschee, dann geht das die jeweils anderen zunächst nichts an. Jetzt aber heißt es: Wenn in diesen Innenräumen etwas gegen die Menschenrechte oder gegen das Impfen gepredigt wird, muss dagegen vorgegangen werden. Diese Debatte betrifft die Anthroposophie sehr direkt und man kann ihr auch nicht mehr ausweichen.

Es gibt ja auch Stimmen, die fordern, solche Probleme mit historischen Texten dann durch staatliche Behörden zu regeln – wie sehen Sie das?

Es geht ja schon in diese Richtung. Ich komme in die Situation, dass ich als staatlicher Beauftragter mit Vorwürfen zu Antisemitismus und Rassismus im Werk Steiners zu tun habe und das in meinem nächsten Bericht für den Landtag 2023 auch ansprechen muss. Ich wünsche mir aber, dass die Gemeinschaften selbst und eben auch die Anthroposophen mithelfen und sich reformieren – ähnlich wie sich die evangelische Kirche, der ich selbst angehöre, kritisch mit Luther auseinandergesetzt und von seinem Antisemitismus distanziert hat. 

Erst wenn die Gemeinschaften selbst solche Aufgaben nicht übernehmen, wächst der Druck auf den Staat. Eine Infragestellung von Freiheiten und Finanzierungen führt aber immer zu tiefen Verwerfungen, deshalb hoffe ich auf reformerische Stimmen, auch in der Anthroposophie.

Haben Sie den Eindruck, dass da schon etwas passiert?

Es gibt Menschen, die sagen, meine Erwartung sei naiv, da die Anthroposophen gar nicht in der Lage seien, sich zu reformieren. Sie hätten sich eine Art Parallelwelt geschaffen mit eigenen Sprachcodes, zu der man keinen Zugang finden könne. Was mich aber sehr ermutigt hat, sind wundervolle Ermutigungen von Anthroposophen und von Waldorfschulen, von Eltern und Lehrerinnen, die diesen Bedarf nach Reformen auch sehen. Ich sehe, dass es an der anthroposophischen Basis sehr viele gibt, die darüber froh sind. Ich hoffe deshalb, dass diejenigen Unrecht behalten, die sagen, die evangelische Kirche konnte sich reformieren, die Anthroposophie aber nicht.

Eine konkrete Rückfrage dazu: Luthers Wirken liegt viel weiter zurück als das von Steiner, gleichzeitig dürfte er trotz aller bleibenden Bedeutung für den Protestantismus für viele Menschen eine weniger wichtige persönliche Inspirationsquelle darstellen als es Steiner für viele Anthroposophen ist. Gibt es da Grenzen der Historisierbarkeit?

Lassen sie mich durch ein konkretes Beispiel antworten. Ich habe mich kürzlich für ein Buch über Nietzsche mit Steiners Arbeiten im Nietzsche-Archiv befasst. Da habe ich festgestellt, dass mir Steiner weit näher ist als Nietzsche. Im Kontext seiner Zeit gab es also weit Schlimmeres! Das hilft uns allerdings alleine nicht weiter. Ich nehme aber an, dass sich Rudolf Steiner heute auch mit dem gegenwärtigen Wissen auseinandersetzen würde. Ich würde mir nicht nur wünschen, dass seine problematischen Äußerungen über das Judentum heute offen angesprochen werden, sondern auch, dass beispielsweise seine positive Arbeit im Verein zur Abwehr des Antisemitismus in seinen Berliner Jahren offensiv erforscht und bekanntgemacht wird. Dieser Aspekt seines Wirkens ist in der Forschung bisher nur eine Randnotiz. Also: kritisch auf Texte schauen, insbesondere dann, wenn sie gar nicht als Texte gemeint waren, aber auch positive Dimensionen erforschen und stark machen.

Das heißt auch, Steiner nicht auf seine zeitbedingten Äußerungen festzulegen. Und eher zu fragen: Wie würde der kosmopolitische Ansatz, den er ja schon damals durchaus wollte, heute aussehen in Zeiten multikultureller Gesellschaften?

Genau. Bei Steiner kommt noch hinzu, dass ein Großteil seines Werkes eigentlich gesprochenes Wort ist – Vorträge, die stenografiert wurden. Da sind aus ursprünglich situativen Reden vermeintlich ewige Lehrtexte geworden. Ich finde, es macht einen großen Unterschied, ob wir Steiners Worte als zeitlos gültige Lehrtexte dogmatisieren, oder aber seine Methode anschauen, das Wissen seiner Epoche aufgreifen und Neues daraus zu formen. Würde Steiner heute auftreten, würde er sicher Wissenschaftszeitschriften verschlingen und neueste Erkenntnisse feiern. Er wäre genauso neugierig darauf, wie es der historische Rudolf Steiner zu seiner Zeit gewesen ist. Ich denke, dass sich die heutige Anthroposophie um eine Möglichkeit der Wissensentwicklung bringt, wenn sie gesprochene Worte in dogmatische Lehrtexte de-kontextualisiert.

Das bedeutet ja auch, die Heterogenität im Leben und Werk Rudolf Steiners anzuerkennen. Sein Verhältnis zum Judentum ist nicht in einer Position und in einem Urteil zu klären, es ist vielfältig.

Auch ich nehme wahr, dass wir bei Steiner zum Thema Judentum und Antisemitismus verschiedene Phasen haben, wo er durchaus unterschiedliche Aussagen vertreten hat. Da nur einzelne Aussagen rauszupicken, würde ihm nicht gerecht.

Wenn ich ergänzen darf: Steiner hat nach eigenem Bekunden den Antisemitismus während seiner Jahre in Wien unterschätzt und hat das später, als er die Wirkungen des Antisemitismus bei befreundeten Juden bemerkt hat, korrigiert und den Antisemitismus dann auch als gefährlich bezeichnet.

Ja, Steiner hat den Dialog gesucht. Und heute freue ich mich, dass mir Mitglieder der jüdischen Gemeinden das Interesse an einem Dialog mit der Anthroposophie signalisieren. 

Es wird sich zeigen, ob sich Anthroposophinnen und Anthroposophen finden, die das Dialogangebot annehmen – oder ob Steiner auf bestimmte Sätze festgelegt werden soll. Das würde aber in eine Sackgasse führen, wenn man die Dynamik und Dialogbereitschaft aus seinem Leben herausnimmt.

Ich möchte noch auf eine Sorge zu sprechen kommen: In der Öffentlichkeit scheint gegenwärtig ein Narrativ Fuß zu fassen, das – verkürzt gesagt – auf die Gleichung hinausläuft: Esoterik gleich irrational gleich demokratiefeindlich. Da fühlt man sich als Anthroposoph bedrängt, weil man natürlich Dinge für wesentlich hält, die sich nicht mit der rein naturwissenschaftlichen Rationalität belegen lassen – was ja ebenso für die Inhalte der Religionen gilt.

Da sehe ich tatsächlich eine Gefahr und da schließt sich der Kreis zu dem, was wir zu Anfang besprochen haben: den Umbruch von der Induktion zur Falsifikation, den ich wahrnehme. Der betrifft die Esoterik, der betrifft die Religionen, der betrifft aber beispielsweise auch die Ökonomie. Selbst so etwas wie das Modell des Homo Oeconomicus, mit dessen Hilfe man jahrzehntelang wirtschaftliches Verhalten erklärt hat, wird heute – wie ich meine: zu Recht – nicht mehr akzeptiert, weil man sagt, das entspreche nicht mehr wissenschaftlichen Standards. Und ein großer Teil der Wissenschaft, die sich noch darauf beruft, wird hart attackiert. Die Anthroposophie ist so gesehen in einer Schlüsselposition, da sie besonders leicht als esoterisch angegriffen werden kann, was diesen Übergang zu einer nur noch auf Falsifikation beruhenden Wissenschaft betrifft.

Inwiefern?

Wir haben in der Anthroposophie Schulen, es betrifft also die Kinder, wir haben die Medizin und Krankenhäuser, wir haben bekannte Produkte – und wir haben Lehren, die sich mit Rassismus und Antisemitismus in Zusammenhang bringen lassen. Wenn also jemand diese weltanschauliche Debatte scharf und auch international führen will, bietet sich die Anthroposophie dafür geradezu an. Deshalb ist auch die Frage, wie die Anthroposophie damit umgeht, von großer Bedeutung für die Bewegung selber, aber darüber hinaus sogar für das geistige Klima im 21. Jahrhundert. Ein Teil der Bitterkeit und der Gegnerschaft, den Sie als Anthroposophen erleben, geht darauf zurück, dass Sie hier in einer Stellvertretersituation für eine ganze Epoche behandelt werden.

Ich würde mir natürlich darüber hinaus schon wünschen, dass so etwas wie Glaubens- und Meinungsfreiheit auch den Anthroposophen zugestanden wird – solange sie selbst keine rassistischen Haltungen propagieren, selbstverständlich.

Die Glaubensfreiheit für die Anthroposophen würde man in dieser Debatte noch nicht in Abrede stellen, sehr wohl würde man aber die staatliche Finanzierung für die Schulen bestreiten, was wir in Ansätzen ja auch schon erlebt haben. Als nächstes ginge es dann vermutlich um anthroposophische Produkte. Mein Eindruck ist, dass sich die Anthroposophie in dieser Debatte mit einer reinen Verteidigungshaltung selber schaden würde. Sie würde aber darüber hinaus, wenn sie es versäumt, in den angedeuteten weiteren Diskurs einzusteigen, dafür sorgen, dass auch andere ihre Freiheit mit verlieren. Wir gehen gerade in eine Debatte hinein unter der Frage: Welche Freiheiten gönnen wir einander unter der Prämisse der Wissenschaft, unter der Prämisse der Falsifikation? Deshalb finde ich es ermutigend, wenn ich Anthroposophinnen und Anthroposophen treffe, die sagen, okay, wir stellen uns dieser Herausforderung.

Anthroposophie will ja nicht nur eine innere Privatsache sein, sie will auch zur gesellschaftlichen Gestaltung beitragen. Und sie hat sich auch gerade in den letzten Jahren weniger als ein Allheilmittel, sondern vielmehr als ein Beitrag innerhalb einer pluralistischen Zivilgesellschaft eingebracht.

Damit wäre ich sehr glücklich, denn ich sehe meine Aufgabe als Beauftragter gegen Antisemitismus der Landesregierung ja nicht darin, die Zivilgesellschaft zu reglementieren, sondern das Gespräch anzubieten, auch Kontakte gegenüber der jüdischen Gemeinde. Es wäre ein Verlust auch für das ganze Land, wenn die Anthroposophie in eine Defensive geriete und zum Gespött und Angriffs-Objekt für die Epoche der Falsifikation würde. Ich bin aber guter Hoffnung, dass sich da genügend Menschen finden werden, die sagen, wir finden gemeinsam einen Weg nach vorne. Dafür stehe ich gerne zur Verfügung.

Was ist denn Ihre persönliche Antriebsquelle für Ihre Arbeit?

Ich komme aus einer nicht-religiösen Familie. Meine Eltern stammen aus der DDR, mein Vater hatte einen Fluchtversuch gemacht und war in Stasi-Haft. Ich bin deshalb eigentlich mit einer tiefen Dankbarkeit für die Vielfalt und auch die Religionsfreiheit in unserem demokratischen Land großgeworden. Zu meiner eigenen Religion habe ich mich erst spät entschieden und mich erst als Erwachsener taufen lassen, meine Frau ist Muslimin. Ich glaube also auch selbst an Dinge wie Hoffnung, Sinn und Menschenwürde, die über die empirisch-falsifizierende Wissenschaft hinausgehen. Ich bin einerseits selbst ein wissenschaftlich geprägter Mensch und habe beispielsweise meine Dissertation zum Thema Religion und Hirnforschung geschrieben, auf der anderen Seite habe ich das Anliegen, liberale Freiheitsräume gegen intoleranten Reduktionismus auch zu verteidigen. Freiheit realisiert sich für mich immer auch in Vielfalt. Und ich fände es schrecklich, wenn es dahin käme, dass es beispielsweise nur noch ein einheitliches staatliches Schulsystem ohne dynamischen Wettbewerb gäbe, das wäre ein Verlust. ///

Zur Person:

Michael Blume wurde 1976 in Filderstadt geboren, wo seine Mutter als Krankenschwester in der Filderklinik tätig war. Er wurde als Jugendlicher Mitglied der CDU, studierte Politik- und Religionswissenschaft und wurde zum Dr. phil. promoviert. 2014 organisierte er im Auftrag des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann die Aufnahme von 1100 besonders schutzbedürftigen hauptsächlich jesidischen Frauen und Mädchen aus dem Nordirak, unter ihnen auch die spätere Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad. Blume ist engagiert im christlich-muslimischen Dialog und wurde im März 2018 auf Vorschlag der jüdischen Landesgemeinden von Landtag und Landesregierung zum Beauftragten gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg berufen.

Dieses Interview erschien in der Februarausgabe 2021 der Zeitschrift info3.

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