Presseschau - Diese Kinder sind die größten Verlierer der Corona-Pandemie

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Die Sozialforscherin Caterina Rohde-Abuba von World Vision fordert, die Schulen für alle wieder zu öffnen. Ein Vergleich von Ghana und Deutschland bringt erstaunliche Erkenntnisse.

Frau Rohde-Abuba, Sie haben Kinder und Jugendliche in Deutschland und Ghana gefragt, wie es ihnen in der Corona-Pandemie geht. Die beiden Länder sind sehr verschieden, trifft das auch auf die Erfahrungen der jungen Menschen zu? 

Nein, das ist eines der interessantesten Ergebnisse. Wir haben festgestellt, dass sowohl in Ghana als auch in Deutschland die Unterschiede zwischen Kindern aus benachteiligten sozialen Schichten und Kindern aus der Mittelschicht viel größer sind als die Unterschiede zwischen den beiden Ländern selbst.

Was ist allen gemeinsam? 

Im Lockdown und beim Homeschooling haben sich die Tagesabläufe der Kinder und Jugendlichen in Deutschland und Ghana sehr geähnelt. Und sie haben in der weitaus größten Zahl sehr unter den Einschränkungen gelitten oder leiden noch immer. Sie haben das Gefühl, sie lernen zu Hause nicht gut genug, verschlechtern ihre Noten, schaffen vielleicht den Abschluss nicht. Sie sind isoliert, können Freunde und Freundinnen nicht treffen, verbringen die meiste Zeit vor dem Bildschirm und sind dabei doch sehr gelangweilt, oft auch traurig. Man spürt, dass ihnen die normalen Aktivitäten eines Tages, wenn sie auch in die Schule gehen oder ihren Hobbys nachgehen, sehr fehlen.

Welche Folgen hat es, wenn diese Kinder und Jugendliche fast nur noch zu Hause und weitgehend isoliert sind? 

Es gibt eine Gruppe, bei denen Homeschooling gar nicht funktioniert, weil Familien sie nicht unterstützen können, die Ausstattung fehlt oder sie vielleicht die Betreuung von Geschwistern übernehmen müssen. Das gibt es sowohl in Ghana als auch in Deutschland. Für diese Kinder hat Bildung so gut wie gar nicht stattgefunden. Und das nicht selten viele Monate lang. Es ist mehr als fraglich, ob das überhaupt aufzuholen ist. Die Kinder sind frustriert und viele resignieren auch. Der Lockdown hat die sozialen Unterschiede deutlich verschärft.

Jetzt sind ja nicht nur Schulen geschlossen, auch Sportvereine können nur sehr eingeschränkt Angebote für Kinder und Jugendliche machen, Schwimmbäder sind zu, Kinos und vieles mehr.

Ja, natürlich. Die lange Zeit dieser Maßnahmen macht die Hürde höher, Kinder und Jugendliche, die schon zuvor nur geringe soziale Teilhabe erfahren haben, zu Aktivität zu verhelfen, ob nun im Lernen oder Sport oder bei den sozialen Kontakten.

Kann man sagen, dass Kinder und Jugendliche DIE Verlierer dieser Krise sind? 

Sie sind sicher keine homogene Gruppe. Es hängt extrem davon ab, was die Familie leisten kann. Es gibt auch, wohl eher wenige Familien, die die zurückliegenden Monate als schöne Phase mit viel gemeinsamer Zeit erlebt haben. Jene, bei denen das nicht funktioniert hat, sind aber vermutlich wesentlich mehr. Und diese Kinder sind tatsächlich die größten Verlierer der Pandemie. Sie sitzen zu Hause, weil die Schulen geschlossen oder im Wechselunterricht sind, während die Arbeitsstätten zumeist offen sind und die Menschen in Großraumbüros zusammenarbeiten. Die Bekämpfung der Pandemie ist sehr zu Lasten der Kinder und Jugendlichen gegangen.

Erwachsene können ja vielleicht auch leichter darauf verzichten, sich zum Kaffeetrinken zu treffen oder mit dem Kegelclub zusammen zu sitzen, als dass Kinder und Jugendliche darauf verzichten müssen, ihre Freunde nicht mehr zu sehen. 

Die soziale Isolation hat gerade für Kinder und Jugendliche schwere Folgen die Kontakte zu Gleichaltrigen für ihre psychosoziale Entwicklung brauchen. Sie können auch nicht einfach wie Erwachsene auf Erfahrungen zurückblicken, die über die schwere Zeit hinwegtragen können. Deshalb hoffen wir sehr, dass alle bald wieder in die Schule zurückkehren können. Aber das wird für viele vermutlich auch gar nicht so leicht sein, sich wieder an große Klassen mit 30 Kindern zu gewöhnen.

Die Schulen sollen also schnell wieder für alle offen sein. Aber das kann auch überfordern, sagen Sie. Wie kann man das lösen? 

Wir brauchen kein Nachhilfe- und Aufholprogramm, sondern wir müssen die Schulen umstrukturieren, brauchen dauerhaft kleinere Klassen, mehr individuelle Zuwendung und Förderung sowie eine stärkere soziale Mischung in den Schulen. Unser Bildungssystem in Deutschland hat ja auch vor der Pandemie nicht funktioniert, wenn es um den sozialen Ausgleich geht. Die Bildungschancen der verschiedenen sozialen Gruppen sind gerade bei uns sehr ungleich verteilt, und das hat sich in der Pandemie noch verstärkt, abhängig davon, was die Familien leisten können. Kleine Klassen bieten zudem einen besseren Infektionsschutz, weil man ja nicht davon ausgehen kann, dass alle Kinder im Herbst tatsächlich geimpft sind.

Zur Person

Caterina Rohde-Abuba (39) leitet die Forschungsabteilung des christlichen Hilfswerks World Vision, das seinen Deutschlandsitz in Friedrichsdorf (Hochtaunuskreis) hat. 

Die aktuelle Kinderstudie von World Vision hat im Sommer und Herbst 2020 je 2500 Kinder von sechs bis 16 Jahren in Ghana und Deutschland nach ihrem Erleben der Corona-Krise befragt. pgh

 

Interview: Peter Hanack

Quelle: fr.de | 06.05.2021